St.Petersburg, das Leningrad der Sowjetzeit, Stadt am alleröstlichsten Zipfel des Finnischen Meerbusens der Ostsee, gegründet 1702 und 1712-1918 Hauptstadt, war für Zar Peter den Großen das Symbol für die Anbindung Russlands an Europa, den Westen, seine Kultur und Zivilisation. So wurde St.Petersburg eine europäische Stadt mit eigenem Flair und Charme. Zur Zeit von Napoleons Feldzug 1812 blieb die Stadt verschont dank General Wittgenstein, dem es gelang, die Franzosen südwärts abzudrängen.[i] Nun stieß die Grande Armee Richtung Moskau – es war inzwischen leer und kalt, aufgewärmt nur durch die Brandschatzung der frierenden Soldaten. Hitlers Truppen hatten es nicht einmal so weit gebracht. Egal, ob nun Napoleon sagte oder nicht, er treffe mit dem Sieg in Moskau Russland ins Herz – es war einer der Versuche, Russland Europa einzuverleiben. Zur Zeit von Hitlers Freitod war bereits halb Europa Russland einverleibt. Dazwischen war den Bolschewiki das Glücks beschert worden, zu den Siegermächten des Ersten Weltkrieges zu zählen.
Heute ist Moskau in unseren Köpfen wieder weiter weg als in den letzten Tagen des Kalten Krieges, als Gorbatschow das „Gemeinsame Haus Europa“ beschwor. Das ewige Hin und Her mit Ukraine und Krim, vergleichbar mit Polen, der Zerreißzone nördlich davon, hat Europa wieder einmal einen Krieg gebracht, für dessen Andeutung einer Prophezeiung S.P. Huntington [ii] von allen Seiten bittere Kritik hatte ertragen müssen.
Dabei läge Moskau, blickt man auf das Gradnetz unserer Erde, nicht weiter abseits der Mitte Europas als der Mont Blanc, als Düsseldorf, Bonn, Bern und Nizza: dort, am 7. Längengrad Ost, verläuft die westliche quasi Parallele zum 38. Längengrad Ost, an dem der Ostteil von Moskau liegt. Die Mitte Europas in nord-südlicher Richtung verläuft entlang des 22. Längengrades Ost, zwischen dem 57. Längengrad Ost am Westrand des Uralgebirges und dem 12. Grad West an der Atlantikküste von Irlands Dingle Bay. Sie teilt im Süden den Peloponnes, läuft über Parnass und Olymp, vorbei an Skopje, Nis und Debrecen, über Lublin und Warschau, zwischen Vilnius und Kaliningrad, zwischen Stockholm und Helsinki zum norwegischen Hammerfest.
Aus allerlei Perspektiven hat Westeuropa sich selbst – und magnetisch Richtung USA abgelenkt – aus verzerrter Optik als Mitte Europas gelebt, in ängstlichem Windschatten nordamerikanischer Arroganz statt selbstbewusster Diplomatie mit Verweis auf eine europäische Identität, in blinder kapitalistischer Gier statt weitblickender weltpolitischer Weisheit.
Die Sache ist nur die: Russland besaß nicht nur schon einen Teil von Nordamerika und reicht nicht nur heute bis 3,8 km an USA’s Alaska heran.[1] Es reicht auch bis China. China weiß und schätzt das. Die Europäer haben es in ihrer Angst vor den Kommunisten verschwitzt, bar eines kolonialen Geschichts- und Verantwortungsbewusstseins, bar auch des Mutes, Machiavellis Rat zu beherzigen, wonach Gedemütigten gegenüber weit mehr Vorsicht dringend anzuraten war, nicht aber Gier-geblendetes Vertrauen auf beiderseitigen Nutzen. Schon sind die Rollen getauscht: war 1950 Mao noch um Hilfe zu Stalin nach Moskau gereist,[iii] so blickt heute ein kranker Putin traurig auf Xi’s erkaltende Schulter. Chinas weltumspannende Krakenarme sind Teil eines riesigen lebendigen Organismus. Moskaus Atomraketen drohen nur als Salutschüsse auf den Tod Aller. Chinas Krakenarme kriechen an die sibirischen Rohstoffe, seine Menschen infiltrieren den Südosten via Vladivostok und Chabarowsk. Blind vor altem Hass auf den Gegner im Kalten Krieg betreibt Putin den Ausverkauf seiner Heimat an China. Europa sieht zu, beteiligt sich seit Jahrzehnten an der erneuten Polarisierung mit der Ukraine, statt beide für ein gemeinsames Ziel zu überzeugen.
Der Preis, den das russische Volk für sein Überleben zu zahlen haben wird, dafür, dass es diese Führung nicht zur Hölle geschickt hat, der Preis an das Volk der Hinterbliebenen und Überlebenden der Ukraine, an die Welt, die Unterstützer der Ukraine, die Opfer des Wirtschaftsembargos Russlands gegen die Ukraine, die Opfer des weltwirtschaftlichen Niedergang in der Folge dieses militärischen Krieges gegen die Ukraine und des Wirtschaftskrieges gegen den Rest der Welt, dieser Preis wird mit jedem Tag höher, bald unüberwindlich hoch. Freilich haben die Menschen immer wieder in emotionaler Blendung ihre Erfahrungen aus der Geschichte ignoriert, aber was das Russische Volk sich nun selbst aufbürdet, trotz seiner Erfahrungen aus Revolution, Gewaltherrschaft und Niedergang, entbehrt dennoch der Verständlichkeit aus rationaler Sicht (nicht aus der Sicht rachsüchtiger Rage der Gedemütigten am Ende des Kalten Krieges): kaum zu Atem gekommen nach dem Zusammenbruch der UdSSR, wiederholen sie ihren Anspruch auf Weltmacht und -herrschaft, isolieren sich erneut vom Rest der Welt, zwar größtes Land aus geographischer Sicht, aber Zwergstaat aus ökonomischer Perspektive, wenn auch Rohstofflieferant.
Putin hat sich zwar auf Peter den Großen berufen, scheint aber nichts verstanden zu haben: Moskau wird nur mit Europa bestehen, nicht dagegen und nicht mit China.
[1] Die Grenze zwischen beiden Mächten liegt seit 1867, als die USA den Russen Alaska abkauften, zwischen den Diomedischen Inseln am Nordende der Bering-See: die Große im Westen ist russisch, die Kleine im Osten gehört den USA: mit Feldstechern konnten die Militärposten einander den Kalten Krieg lang beobachten, denn sie liegen, wie gesagt, nur 3,8 km auseinander. Der Name der Inseln hat nichts mit ihrer heutigen Funktion zu tun, sie erhielten ihn, weil Bering sie am 16. August 1728 entdeckte, dem Namenstag des orthodoxen Heiligen Diomedes von Tarsos.
[i] https://www.rbth.com/education/335229-why-did-napoleon-attack-moscow
[ii] Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations (Kampf der Kulturen).
[iii] https://www.spiegel.de/politik/krieg-zwischen-russland-und-china-a-24e7b021-0002-0001-0000-000045202866