Macht und Ohnmacht in der Demokratie

Von Demokratie über Anarchie zur Autokratie – oder geht es auch ohne die Letzte?

Medien: wenn die Vierte Macht in Ohnmacht fällt.

Vom Kreislauf der Macht zwischen Volksmasse und Regenten.

Kein Minimalkonsens ohne gedeckeltes Maximaleinkommen.

 

Mit „Pressefreiheit“ geht in einem bis vor kurzer Zeit kaum hinterfragten „laissez faire“ die „Macht des Kontrolleurs“ einher, der überwacht und hinterfragt, ob die Politiker mitteilen was sie reden und tun, und nicht nur das, auch prüft und kommentiert, ob die Politiker halten, was sie versprochen haben. Jedoch: diese Kontrollfunktion war schon immer die kritische Schwäche im System, eine Lücke, allerdings an anderer Stelle als erwartet: denn mit ihrem Auftrag zur neutralen Berichterstattung und dem Freibrief der Justiz fällt den Medien zwar die Rolle des Kontrolleurs zu, weil es in diesem Konzept von demokratischer Gewaltenteilung keine andere offizielle Instanz gibt, die prüft, ob die Politiker ihrem Auftrag nachkommen; dafür hat man sozusagen als Verlegenheitslösung und Pufferzone die virtuelle Vierte Macht im Staate geschaffen. Die angesprochene Schwachstelle im System befindet sich aber am anderen Ende der Informationskette: denn Benachrichtigung des Volkes ist ein freiwilliger Akt der demokratisch gewählten Machthaber, überall im Westen. Diese Schwäche im System kommt nun dort zutage, wo aufstrebende Autokraten solche Lücken für ihre Zwecke nutzen:

Trump sperrt die Journalisten aus, Erdogan sperrt sie ein.

In beiden Fällen ist es Folge des sogenannten Volkswillens, Programm demokratisch gewählter Regenten. Diese Lücke im System wird von der Justiz noch verdeutlicht, indem das deutsche Bundesverfassungsgericht in einem Urteil vom 25. April 1972 feststellt, dass „die freie geistige Auseinandersetzung ein Lebenselement der freiheitlichen demokratischen Ordnung in der Bundesrepublik und für diese Ordnung schlechthin konstituierend“ sei und „entscheidend auf der Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheit“ beruhe, „die als gleichwertige Garanten selbständig nebeneinander stehen.“ Damit lässt die Justiz, diese Zweite Gewalt im Staate – gleichzeitig ist sie obendrein mitunter die Erste, die der Legislative, der eigentlichen Ersten Macht, in einem Zirkelschluss ihre Fehler vorhält – lässt also die den Faktor „Gefahr der Manipulation“ auβer Acht, eröffnet damit Missbrauch nach beiden Seiten Tür und Tor, offen für Journalisten und Politiker:

Journalisten: sie verbreiten als „Freie Presse“ ihre persönliche Meinung unter dem Titel „Informationsfreiheit“ an ein Millionenpublikum, ohne erklären zu müssen, ob es sich um ihre eigene Meinung handelt, oder die einer, z.B. politischen, Partei, oder der Meinung von dem, was sie als „öffentliche Meinung“, als „politisch korrekt“ verstehen. In Talk-Shows spielen sie Politiker. In ihren „Kommentaren“ vermischen sich Privates, Parteipolitisches, Expertenhaftes, „politisch Korrektes“ und – gewollt oder ungewollt – Manipulatives. Der Mensch glaubt, was er hört und sieht, so wie er glaubt, was er liest.

Politiker: Politiker können, müssen aber nicht mit Journalisten über das reden, was sie tun. Das müssen sie nur in politischen Ausschüssen. Und über solche Ausschüsse entscheiden die Politiker selbst, so wie die Richter selbst darüber entscheiden, ob sie parteiisch sind oder nicht. Politiker können sich aussuchen, mit welchen Journalisten sie reden und welchen nicht.

Bestenfalls kann man also sagen, dass Demokratie gegenüber Manipulation hilflos ist und daher ohne Systemkorrektur bald als kurzlebige Erscheinung wieder verschwinden wird, dort, wo man sie überhaupt noch als solche wahrnimmt.

Das Systemproblem der Demokratie beginnt mit „Volkswille“: denn das Volk hat keinen Willen, weil es keinen haben kann. Die Briten und die Amerikaner sind die letzten Opfer dieses Irrglaubens. Der Mensch, der Einzelne, der hat einen Willen. Volkswille ist ein flatterhaftes, im Augenblick leicht verführbares Geheimnis, von dessen wechselhaften Strömungen sich nur der Instinkt der Führernatur tragen lassen kann, bis die Hybris seinen/ihren Fall bedingt. Ohne Glauben an eine Führung, ohne Vertrauen, versinkt der Volkswille in Chaos und Anarchie.

Politik als Projekt auf Zeit, Demokratie also, basierend auf Vertrauensvorschuss und kontinuierlicher Tätigkeitskontrolle, kann nur dann auf Dauer funktionieren, wenn nicht nur beides, Vertrauensvorschuss und kontinuierliche Tätigkeitskontrolle, für Alle gilt, sondern auch die Menschenwürde zumindest einen für Alle akzeptablen Rahmen existentieller Gleichheit erhält: zuerst der Bildungschancen, danach der Lebensführung. Der freie Kapitalismus zerstört eine Demokratie von innen, wenn sie ihr Verständnis von „Freiheit“ undefiniert lässt – eine weitere Lücke im System. Diese nächste Lücke ermöglicht, ja erzwingt eine soziale Schieflage, social divide, die Volksmassen in Bewegung versetzt, national, kontinental, global. In den Demokratien westlicher Prägung kursiert seit Jahren die Debatte um soziale Gerechtigkeit nach unten: das „Mindesteinkommen.“ Woran liegt es wohl, dass „soziale Gerechtigkeit“ nur daran gemessen wird? „Macht“ und „Gier“ sind apokalyptische Pferde aus ein und demselben Stall. Wird sich ein Weg finden, dem Rahmen sozialer Gerechtigkeit durch ein „Maximaleinkommen“ auch eine Obergrenze zu setzen?

Wiederholte Erfahrung in der Geschichte erinnert uns schlieβlich, dass politische Systeme allein kein Garant für Stabilität sind. Dazu braucht es Kräfte, die zwar rational verankert sind, aber tiefer wurzeln, Kräfte, die allen Menschen gemeinsam sein können, wenn sie kultiviert werden: Verzicht zugunsten Anderer, Verständnis für Fehler Anderer, tatsächliche Wahrung der Würde der Anderen. Miteinander füreinander.

Beide, Demokratie und ihre schwindelerregende Rennmaschine, der freie Kapitalismus, dieses angeblich einzige Perpetuum Mobile des Universums, auf dem immer weniger von uns sitzen dürfen, beide sind Auslaufmodelle. Das Volk will und braucht tatsächliche Führung, nicht nur Produktwerbung und Kaufdrang, braucht politische Taten statt Absichtserklärungen und Forderungen, adressiert an „to whom it may concern“. Was nützt da eine „Freie Presse“ als Warnung im Kreis, gegen alle Handelnden, als Rundfrage an alle Ratlosen, als alleswissende Prophetin, auch käuflich für Jedermann? Mir erscheint jedenfalls eines sicherer: eine Welt ohne Presse mit Freibrief zur Manipulation. Der Rest betrifft uns Alle – Alle einzeln: theoretisch als Frage der Sozialmoral, praktisch als guten Willen zu friedlichem Füreinander und Miteinander in der Einsicht, dass Opferbringen ebenso dazu gehört wie verständnisvolle Distanz, solange kulturelle Unterschiede Spannungen bedingen: Minimalkonsens sogar für sogenannte multikulturelle Gesellschaften.

Eine vertiefte Diskussion der „Pressefreiheit“ finden Sie im Kapitel „Die Freie Presse fällt der Demokratie in den Rücken“ in „Demokratie 4.0. Evidenz statt Macht“, zweite Auflage, BoD 2019, ISBN  978-3-7460-2516-2.

 

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