Ereignis schafft Zeit

In der Physik verliert sich die Materie zwischen den unvereinbaren Theorien der Relativität und der Quanten im Kleinen, unter der „großen Einheitstheorie“ (GUT, Great Uniform Theory), der Gravitation, dem Elektromagnetismus und den zwei Kernkräften [i],  in immer kleineren Partikeln, bis sie sich als Wellen und Vermutungen zwischen den Fingern von Gravitonen und Gravitinos in einem Schaum [ii] zu Nichts verliert,[iii] – zu Nichts als den Eigenschaften an sich? Der Physiker Paul Davies verglich das Phänomen mit dem Unterschied zwischen dem Inhalt eines Romans und der dafür angesammelten Aneinanderreihung von Wörtern; er erläutert die „Quantenwelle“ als eine Informationswelle, eine Welle, die nicht dem Atom als Welle entspricht, sondern einer Information über das Atom [iv] – also über diese seine Eigenschaften?

In der Astrophysik, also im Großen, verbirgt sich der Beginn von Allem, also auch die Erklärung einer Herkunft der Materie, hinter der Pforte des „Big Bang“ mit ihrer unerreichbaren „Zeit null“ – Max Planck errichtete eine Mauer des Erreichbaren an „Zeitpartikel“ bei 10-47 Sekunden. Die Wahrheit ruht in der Tiefe der „Schwarzen Löcher“, während die Physiker in der dunklen Materie und Energie nach der Wahrheit graben. Die Quizfrage aller Fragen lautet: wie bringt man die unvereinbaren Theorien auf den einen Nenner einer alles einschließenden Urkraft.

Nun „wissen“ wir jedenfalls in der uns eigenen Gewissheit – denn „Wissen“ an sich können wir nichts, wie seit den Anfängen der Philosophie, den Bruchstücken des Xenophanes und den Texten Platons über Sokrates schriftlich dokumentiert [v] – , „wissen“ also, dass das Alles vor knapp 14 Milliarden Jahren begann,[vi] „wissen“, dass die Sonne viereinhalb Milliarden Jahre alt ist, und das Leben drei bis dreieinhalb [vii] – Vorstellungen von einer Zeit, die hinter unserem Erkenntnisrücken zusammen mit unserer Vorstellung von Raum flüssig in den Trichter der Gravitation tröpfelt, an dessen Boden sie sich beide in den Schwarzen Löchern des Universums auflösen.

Die Existenz von „Zeit“ an sich scheint zunächst fraglich, fraglich, ob sie nicht nur Folge von „Ereignis“ ist. Immerhin also eine theoretische Entität für sich, als Folge, als Intervall, und damit nicht mehr gänzlich fraglich also. Die Annahme, dass Zeit nur ein Konstrukt unseres Gewahrseins sein könnte, scheitert ebenfalls, nämlich daran, dass Ereignis auch Zeit schafft, ohne dass ein bewusstes Wesen dabei zusieht: Zeit ist vergangen, wie wir behaupten, zwischen dem Big Bang und dem Auftreten unseres Gewahrseins. Dass Alles, also auch Zeit, nur im Gewahrsein existiere, ist also eine von uns selbst von vornherein widerlegte These, widerlegt auch die Frage nach der Wirklichkeit jeglicher Existenz, widerlegt mit unserer eigenen Gewissheit und Überzeugtheit – denn es handelt sich um eine Tautologie: „Existenz“ ist gleichbedeutend mit „Wirklichkeit“: die Annahme der Existenz von Wirklichkeit basiert nämlich auf der Annahme der Existenz von Existenz selbst. Wirklichkeit ist Existenz. Was hier postuliert werden könnte, ist, dass es Existenz auch als geistige Entität gibt, als Gewesenes, als zeitlos Ewiges, geistige Existenz jenseits der von uns erkennbaren Welt und des von der Physik so benannten „lokalen Realismus“, also einer Art Mittelwelt zwischen Mikro- und Makro-Kosmos.

Wir existieren als Kinder der Evolution, Ergebnis erfolgreicher Anpassung an Veränderungen der Außenwelt. Damit ist sowohl die Existenz der Außenwelt bestätigt wie auch unsere eigene Existenz. Außerdem spricht diese Evolution für den sogenannten Zeitpfeil, also die These, dass sich der Kosmos von einem Ereignis in der Vergangenheit aus durch die Gegenwart in die Zukunft entwickelt (auch Teilhard de Chardin hatte in diese Richtung argumentiert, wenn er von ständig zunehmender Komplexität der Anordnung der Materie schrieb [viii]), und beispielsweise nicht umgekehrt, oder gar nicht, wie manche Physiker in Frage stellen [ix]. „Zeit“ wird dann zu einem Erlebnisphänomen in unserem Denken, als Folge von Aufeinanderfolge, von unumkehrbarer Sequenz.

Aus jeglicher Sicht ist Gegenwart eine virtuelle Entität ohne Zeit, eigentlich damit zeitlos und Teil der Ewigkeit – wenn auch abhängig von sprachlicher Definition (Wittgenstein hatte Gegenwart mit Ewigkeit verglichen bzw. gleichgesetzt [x]). Denn ein Ereignis ist entweder vergangen, ist Wirklichkeit geworden, oder es kommt erst; nur das zeitlose quasi Intervall dazwischen ist Gegenwart. Dass solche Zeitlosigkeit sogar physikalisch nachweisbar ist – zumindest nahezu – ergab sich aus Experimenten an Photonen, die in ihrem Informationsaustausch die „Lichtmauer“ durchbrechen, also schneller als die Lichtgeschwindigkeit kommunizieren, eigentlich unendlich schnell, sozusagen in einem zeitlosen Augenblick;[xi] Einstein hatte das Phänomen misstrauisch „spukhafte Fernwirkung“ genannt;[xii] heute heißt sie „Verschränkung“, ein Phänomen, das auch „Teleportation“ genannt werden kann. Als Äquivalent hierfür in der Parapsychologie mag der Begriff der „Gedankenübertragung“ gelten.[xiii] Außerdem wissen wir nicht, ob nicht in diesem Augenblick, der zeitlosen Gegenwart, jeweils „Wirklichkeit“ entsteht, Realität aus Potentialität in einem ewigen Schöpfungsprozess, um Kreation aus Geistigem, wie dies der Quantenphysiker Hans-Peter Dürr beschrieb.[xiv] Offen müsste dabei bleiben, wie wir den Akt verstehen dürften, wenn wir Menschen in einem solchen Augenblick eine Entscheidung treffen – als Teil des Schöpfungsprozesses an sich, oder als Ausdruck freien Willens?

Solange wir an die Existenz von Materie, von Universum und Himmelskörpern und deren Geschichte glauben, so lange gibt es wohl auch Raum und Zeit an sich, als Phänomene vor ihrem Auskristallisieren in der Wirklichkeit also, auch ohne unser Denken, ohne unsere Präsenz. Immerhin haben ja auch alle Gegenstände im Universum Eigenschaften, gleich, ob wir hinsehen oder nicht – wer weiß, vielleicht lösen sich bei noch genauerem „Hinsehen“ die Teilchen der Materie überhaupt in „Nur-Eigenschaft“ auf; das müsste dann allerdings außerhalb der Realität sein, an einem Ort, aus dem sie in diese Wirklichkeit als Materie auskristallisiert sind; oder die Quantenphysiker haben sie in einer Übergangswelt aufgespürt, dort, wo sie entweder Teilchen oder Energiewelle sind, wo die Wahl zwischen Potentialität und Wirklichkeit noch nicht gefallen ist, gar nicht fallen kann, eben weil es dort keine Zeit gibt, also kein „vorher“ oder „nachher“, kein „noch nicht“ oder „eben doch schon“. Jedenfalls aber könnte demnach die Wirklichkeit der Welt nicht erst durch die Anwesenheit einer Bewusstheit entstehen, also wegen uns als Beobachter, denn dies würde bedingen, dass alles, vom Urknall bis zu diesem Augenblick, nur deshalb wirklich wird, weil wir dessen gewahr werden,[xv] die gesamte Evolution von Kosmos und Leben also nur wirklich stattgefunden habe, weil wir hinsehen. Vielmehr wird durch unser Hinsehen alles in unserem Gedankenkonstrukt Teil der Wirklichkeit, obschon es gleichzeitig Teil der geistigen Wirklichkeit in der Zeitlosigkeit ist, Teil einer Geschichte, die tatsächlich stattgefunden hat. Die Unschärfe und das Leben von Schrödingers Katze sind nicht an sich Teil von Unbestimmtheiten; sie sind es nur in unserem Blick aus der raumzeitlichen Wirklichkeit, von wo aus die Potentialität als Unbestimmtheit täuscht, als Unsinn hüben, was andernfalls als Unsinn drüben gelten müsste: denn ohne Zeit muss jegliches tatsächlich in unserer Wirklichkeit abgelaufene Ereignis den Eindruck von Unsinn vermitteln, gibt es hier doch nur Ereignisabläufe in Zeitdauer – ich komme zu Ende noch auf diesen Begriff zurück.

Unsere Bewusstheit wird eines Ereignisses immer erst im Nachhang gewahr, als Gegebenheit, mit der wir uns identifizieren. Das Ereignis dazu hatte sich nicht in der Zeit verwirklicht, sondern in der Gegenwart, aus der es in die Wirklichkeit trat, zu einem Moment, da sie schon Vergangenheit ist, wie alle Wirklichkeit. Tatsächlich könnte in dieser Unendlichkeit, wie sie im Moment von Gegenwart in der Wirklichkeit auftritt – wenn auch als zeitloses Phänomen – , könnte dort alles beisammen sein, alles, ohne Raum und Zeit, in der Ewigkeit. Dennoch werden wir der Ereignisse gewahr, und ihrer Reihenfolge, mit der Zeit dazwischen, sozusagen als leerer Zwischenraum, auch dann, wenn dieser Zwischenraum nur als Taktgeber einer Sequenz existiert und gar kein Zeitraum ist, also ein Augenblick ohne Dauer. Die Geburt von Wirklichkeit in jedem Augenblick entgeht also unserem Gewahrsein, entschlüpft ihm an der Tür zur Zeitlosigkeit, zur Ewigkeit. Wir müssen davor stehen bleiben, uns mit der Wirklichkeit begnügen. Allerdings hat unsere Bewusstheit in diesen Ablauf der Ereignisse eine neue Dimension gebracht, wie Henri Bergson ausführte:[xvi] jene der „Dauer“, also des filmgleichen Beobachtens über mehrere Ereignisse, einen Vorgang der Transzendierung, des Heraushebens aus Raum und Zeit, mit dem Ergebnis, dass nun „Dauer“ für uns zum vermeintlichen Erleben von „Zeit“ werden konnte, „Dauer“ als Ersatz für „Zeit“. So beginnen die Sequenzen in unserem Gewahrsein zu verschwimmen und zu fließen, erlebt als „Zeitdauer“. Damit, so meint Bergson, gewänne der Mensch seine Freiheit; jedenfalls kann er sich ein gutes Stück weit der Wahrheit annähern, obschon nur in schemenhaften Ahnungen.

„Zeit“: aus der Sicht der Wirklichkeit nichts als das namenlose –

wenn auch von uns mit diesem Begriff versehene –

Intervall zwischen Ereignissen, eigentlich also Begriff für „Sequenz“.


[i] Paul Davies, God and the new physics. Dent & Sons 1983, hier: Peguin Books 1990, S.157.

[ii] Siehe i, S.159.

[iii] Siehe i, S. 153.

[iv] Siehe I, S. 107.

[v] K. Popper, Auf der Suche nach einer besseren Welt. Piper 1984.

[vi] V.J. Becker, Gottes geheime Gedanken, Lotos Verlag 2009 (erste Ausgabe 2008), S.21

[vii] Siehe i, S.153.

[viii] P. Teilhard de Chardin, Der Mensch im Kosmos, 1955.

[ix] Siehe i. S. 126ff

[x] L. Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, 1921, Abschnitt 6.4.3.1.1.: „Wenn man unter Ewigkeit nicht die unendliche Zeitdauer, sondern Unzeitlichkeit versteht, dann lebt der ewig, der in der Gegenwart lebt.”

[xi] http://www.gap-optique.unige.ch/

[xii] zit. in R. Froboese, Die geheime Physik des Zufalls. Edition BOD 2008, S .89.

[xiii] Jean-Francois Revel, Matthieu Ricard, Der Mönch und der Philosoph.  KIWI 2008, S.88

[xiv] H.P. Duerr, M. Oesterreicher, Wir erleben mehr als wir begreifen. Quantenphysik und Lebensfragen. Herder 207, S.112-113.

[xv] Siehe I, S. 111.

[xvi] H. Bergson, Zeit und Freiheit, 1889 bzw. 2011.




Das Ende der alten Welt

Diese Welt zeigt, dass es mit ihr zu Ende geht. Die Menschen erkennen, dass es so nicht weitergehen kann. Sie fühlen, dass ein Sturm von Wandel aufkommt. Manche suchen ein Versteck, Andere Ablenkung im Weitermachen wie bisher. Wieder Andere sehen darin ihre Chance, jetzt loszuschlagen und aus der Verunsicherung der Anderen das große Los für sich zu ziehen. Sturm kommt auf. Propheten haben ihn vorhergesagt. Aber was haben diese Propheten gesehen, was haben sie beschrieben? Haben sie die Lösung aus dem Dilemma beschrieben, oder die Ausweglosigkeit? Oder waren sie gar keine Propheten, sondern Erkennende, die warnen wollten vor einem drohenden Ende ihrer zu Ende gedachten Welt? Ändert euch, oder ihr werdet untergehen? Geht in euch, dort findet ihr die Lösung dieses Rätsels? Warnung, nicht Prophetie? Endzeit für die alte Welt nur, nicht Ende, wenn die Neue beginnt, bevor die alte zu Ende.

Die Natur hat einen Webfehler in sich entdeckt. Sie hat den Menschen hervor-gebracht, damit er ihr diesen Webfehler ausgleiche. Der Mensch sollte die Fähigkeit bekommen, den Weg der Natur durch die Zeit nachzuzeichnen und über ihr Ziel nachzudenken. Darüber sollte er den Webfehler entdecken und verstehen, dass, wollte er überleben, dies nur gelingen kann, wenn er diesen Webfehler ausgleicht. Der Mensch sollte erkennen können, dass er selbst der Ausdruck dieses Webfehlers der Natur ist, der leibhaftige Repräsentant dieses Fehlers in der wirklichen Welt. Er sollte aber auch die Fähigkeit erhalten, einen Ausweg zu finden, die Lösung des Rätsels. Er würde also in der Welt stehen, als Webfehler, der sich selbst reparieren könnte, wenn, ja wenn er sich denn ans Werk machte.

Der Mensch ist der Repräsentant einer zur Selbstbewusstheit verwirklichten Evolution.

Irgendwann müssen die Gene „erkannt haben“, dass sie mit der Methode, auf Kosten der Anderen zu überleben,[1] am Ende nicht überleben werden, wenn der letzte, das letzte Lebewesen, allein dasteht [2] – das könnte nur eine Pflanze sein, kein Tier, das von Tier oder Pflanze lebt.

Stehen zwei Menschen einander gegenüber, die wissen, dass beide sterben, wenn sie nuklear losschlagen, was werden sie tun?

Nur der Mensch erkennt, der Mensch repräsentiert, der Mensch ist diese Erkenntnis der Gene der tierischen Lebewesen: wenn “Überleben auf Kosten der Anderen“ das Überlebensprinzip der Gene schlechthin ist, dann kommt der Punkt, an dem der Siegerpool vor dem Nichts steht, der letzte Überlebende, denn er kann von nichts mehr leben. Diese Erkenntnis muss das Resultat des Erkenntnisprozesses der Gene im Laufe der Evolution geworden sein: dass ihre Strategie letztlich zur Selbstvernichtung führen muss. Also bedurfte es der Erfindung eines Auswegs: er besteht darin, dass die Evolution sich mit ihrer Erkenntnis einrollte, um sich spiegeln zu können, um diese Erkenntnis auf einen Spiegel projizieren zu können, als Selbsterkenntnis ihrer Erkenntnis. Diese Selbsterkenntnis ist verwirklicht im Bewusstsein, in der Selbst-Bewusstheit des menschlichen Denkens: in diesem Denken rollt sich die im Laufe der Evolution gemachte Erfahrung aus, wird zurückverfolgt bis zu ihren Anfängen und dem Beginn des Universums, und von dort zurück herauf bis in die Gegenwart, dort, wo dieses Denken vor der Frage steht: was nun?

Diese Frage darf natürlich nicht erst gestellt werden, wenn der letzte Genpool sich alleine auf der Welt stehen sieht, denn das ist die Zeit kurz vor dem Ende.

Die Antwort muss also spätestens im vorletzten Moment gefunden werden: sie wird gesucht in und zwischen den letzten beiden Überlebenden, die einander umstreifen mit der Überlegung, wie sie den anderen überwinden können, um als alleiniger Sieger übrigzubleiben. An dieser Stelle spielen zwei Informationen eine entscheidende Rolle: erstens: der atomare Radikalschlag scheidet aus, weil er die leicht erkennbare gleichzeitige Selbstvernichtung bedeutet. Es kann also nur auf dem Wege konventioneller Waffen gelingen. Zweitens: der Mensch lebt in Gedanken planend in der Zukunft, aufbauend aus seinen Erfahrungen, die seine Erinnerung füllen. Planend in die Zukunft schauend überlegen sich also diese beiden Letzten, die da einander gegenüberstehen: was käme als nächster Schritt, wenn ich den anderen besiegt haben würde? Spätestens jetzt erkennen also beide, dass sie mit der Überwindung des letzten Gegners sich selbst vernichten, weil es für einen Einzelnen keine Überlebensbasis mehr gibt.

Sie stehen also einander gegenüber und erkennen Jeder im Blick des Anderen diese Erkenntnis. Sie sehen einander an wie Kain den Abel und Abel den Kain. Sie verstehen den Wahn, an dessen Endpunkt sie beide diese Erkenntnis haben, eine, die Kain und Abel noch nicht hatten, die sie hätten haben können, die sie aber nicht hatten: gleich, wer wen von beiden tötet, du tötest dich damit letztlich selbst. Also erfüllen sie den Plan der Gene, nehmen den Ausweg aus dem Dilemma und schließen eine Allianz der Vernunft in Reziprozität. Die beiden Letzten können wir sein, die Menschen der Gegenwart: wir können zu den Gründern eines neuen Sozialsystems werden, das eine friedliche Welt der Regionen und Kulturen ordnet, globale Demokratie der Demokratien in Reziprozität.[3]

Vernunft besteht jetzt also darin, aus der Erkenntnis des Dilemmas der Gene, dass sie ihrer Selbstvernichtung entgegensteuern, (und zu ihrer eigenen Rettung den Menschen geschaffen haben, der sie davor retten soll), aus dieser Erkenntnis den Schluss zu ziehen, dass Reziprozität Alle überleben lässt. Der Repräsentant dieser Vernunfterkenntnis in der wirklichen Welt ist der Mensch.

Die Natur, die Gene, haben erkannt, dass der Pflegetrieb als Garant der Sicherung des eigenen Fortbestehens in künftigen Generationen nicht ausreicht, weil die erwachsenen Individuen allesamt dem Prinzip des Überlebens auf Kosten der Anderen folgen, und damit am Ast sägen, auf dem der Genpool selbst sitzt. Der Pflegetrieb schützt Nachkommen und Familie, Clan, bestenfalls Nation. Doch schon die Nationen fressen sich selbst innerlich auf, indem Stämme dort gegen-einander, die einen auf Kosten der anderen, zu überleben suchen, Jeder in Hedonismus des Anderen Feind wird. Letztlich schließt sich der Kreis dort, wo die zwei letzten überlebenden Nationen, bzw. deren Repräsentanten, einander gegenüberstehen mit der Frage, ob jemand überleben wird. Jedenfalls scheint sich zu erweisen, dass im Überlebensfall die Entscheidung durch Umsetzen von Erkenntnis, geschöpft aus bewusster Denkkraft fällt, wie schon Lebon in der Überschau seiner Erfahrungen meinte.A81 

Auch eine weitere Erkenntnis weist den Weg: die Erkenntnis des Erkennen-könnens  und Beherrschenkönnens der eigenen blinden Überzeugtheit, von Verhaltensforscher Konrad Lorenz benannt als unsere „unbelehrbaren Lehrmeister“. Lorenz selbst entmutigt zwar zunächst, indem er meint: „Ganz offenbar müssen überwältigend starke Faktoren am Werke sein, die imstande sind, der individuellen Vernunft des Menschen die Führung so vollständig zu entreißen, und die außerdem völlig unfähig sind, daraus zu lernen”.[4] Unbelehrbar ist sie wohl, diese Überzeugtheit. Dazu kommt, dass jede neue Generation nicht willens ist zu glauben, dass die Folgen der eigenen Eigenschaften tatsächlich dorthin führen, wohin sie bereits frühere Generationen führte. Jede Generation glaubt, das läge an persönlichen Fehlern der Vorgenerationen, nicht an einem Systemproblem menschlichen Verhaltens. Dies bedeutet aber nicht, dass man sie nicht überlisten könnte. Ich meine jedenfalls, dass es nicht richtig ist zu behaupten, dass wir völlig unfähig wären, aus der Beobachtung unseres Verhaltens zu lernen, unser Verhalten zu ändern. Denn man kann sagen, dass wir den freien Willen hätten, entgegen drängender innerer Überzeugtheit zu entscheiden und zu handeln, wir sind also nicht unfähig, sondern allenfalls unwillig aus selbstzerstörerischer instinktiver Dummheit. Ich meine, dass auch in dieser Erkenntnisfähigkeit, ebenso wie angesichts des instinktiven eigenen Überlebenwollens auf Kosten der Anderen,  eine Überlebenschance für die Art „Homo sapiens“ liegt, zusammen mit der Erkenntnis, dass in dieser unbelehrbaren Überzeugtheit ein fataler Fehler der Evolution liegt, eine Erkenntnis, mittels derer sich die Evolution mit Hilfe des durch sie entstandenen Menschen selbst heilen könnte, eine Erkenntnis, die um Jahrtausende älter ist als die Biologie. Denn es nützt uns nicht zu erkennen, dass „Alle diese erstaunlichen Widersprüche … eine zwanglose Erklärung [finden] und sich lückenlos einordnen [lassen], sowie man sich zu der Erkenntnis durchgerungen hat, dass das soziale Verhalten des Menschen keineswegs ausschließlich von Verstand und kultureller Tradition diktiert wird, sondern immer noch allen jenen Gesetzlichkeiten gehorcht, die in allem phylogenetisch entstandenen instinktiven Verhalten obwalten, Gesetzlichkeiten, die wir aus dem Studium tierischen Verhaltens recht gut kennen,”[5]  nicht, solange wir daraus die Konsequenz nicht ziehen, mit deren Hilfe wir uns selbst am Schopf packen und retten.

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Kommentar  E24 aus „Mensch und Demokratie. Streitschrift für eine globale Sozial-Ethik“, LIT-Verlag, im Druck 2020.

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Seitenangaben im Text beziehen sich auf Ref. [3].

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[1] Richard Dawkins, The Selfish Gene, Oxford Univ. Press 2006 (1976)

[2] Elias Canetti hat das Phänomen als paranoische Machtkrankheit beschrieben (Masse und Macht, Claassen 1960).

[3] L.M. Auer, Mensch und Demokratie. Streitschrift für eine globale Sozial-Ethik, LIT-Verlag, im Druck 2020.

[4] K. Lorenz, Das sogenannte Böse.  DTV 2010 (1963), S.223

[5] K. Lorenz, Das sogenannte Böse.  DTV 2010 (1963), S.223