Wenn wir von „Volksseele“ sprechen, hat das seinen guten Grund.
Freilich hinkt dieser Hinweis auf „Psychoanalyse von Völkern“ auch: denn Geschichte wird fast immer von Individuen gemacht – zumindest bewirkt. Aber das Geschehene bleibt eben auf geheimnisvolle Weise in der kollektiven Erinnerung Aller. Und: Auch Gewaltherrscher können sich den Grundkräften in ihren Völkern nicht lange widersetzen; oder sie wirken hinter deren Rücken weiter, machen die Herrscher machtlos. Diese geheimnisvollen Grundkräfte in Menschenmassen machen sich sogar ihre Herrscher zu Diensten.
Geschichte zu kennen hat demnach auβer dem üblicherweise verstandenen Zweck des „Lernens aus der Geschichte“ – missverstanden als Versuch der direkten Anwendung als Gebrauchsanweisung – einen noch wichtigeren Sinn: es geht um das Verständnis für das Verhalten einer Nation, einer Kultur, gegenüber einer anderen, aus den Erfahrungen, die beide in der Vergangenheit miteinander gemacht haben: Vorurteile und Gefühle schwelen oft tief vergraben im „kollektiven Gedächtnis“ eines Volkes. Schmach, Erniedrigung, die eines dem anderen angetan, schon nach zwei Generationen wissen sie nur noch die Alten aus eigener Erfahrung, die Jungen kopieren nur mehr eine allgemeine Abneigung, eine lauernd geduckte Haltung, von der sie nicht wissen, woher sie kommt, die sie aber schon als Kinder gelernt haben.
Ein Volk entwickelt scheinbar plötzlich ein Verhalten, das mit den gegenwärtigen Ereignissen nichts zu tun zu haben scheint; die Medien und populistische Politiker fallen darüber her und schüren daraus neue Aggressionen: das konkrete Wissen um die Geschichte dieses Vorgangs kann verstehen machen, warum jetzt und hier. Geschichtsanalyse wirkt dann wie eine Psychoanalyse beim Einzelnen. Das letztendliche „Warum“ bleibt bei beiden ein Geheimnis, aber die Angst vor dem Gespenst ist weg. Vertrautheit mit dem, was die andere Seite fühlen muss, schafft Verständnis, Frieden. Diese Entspannung entlockt hier und da freiwillige Buβe, schafft Augenhöhe allenthalben. Aggression hingegen dreht das Rad der Geschichte zu ihrer Wiederholung.
Die Anamnese der Türkei mit NATO und EU ist ein Beispiel, ihre Migrationsgeschichte mit Deutschland. Weitere Beispiele: alle Laender der Welt. Nur: Psychoanalyse funktioniert durch Aufrichtigkeit, oder sie schlaegt fehl.