Gleichheit, Menschenwürde und Menschenrechte bei Jürgen Habermas

Dazu kann man zunächst bedenken, dass es „Würde“ an sich nicht gibt außer in der Beziehung zwischen Menschen. Aus demselben Grund kann es auch kein Naturrecht im Sinne von John Locke auf Leben und Freiheit geben, sondern nur einen Anspruch als Folge der Entwicklung menschlicher Gemeinschaften, deren Individuen sich kraft ihrer Erkenntnisfähigkeiten von einem rein instinktiven Leben gelöst hatten. In diesem Milieu entwickelten sich Wille und Absicht zur Kontrolle von Instinkten wie auch der daraus erwachsenden Sozialhierarchie, Umgangsformen zur Wahrung der Würde der Mitglieder einer Gruppe. Wille und Absicht unterliegen dabei einer historischen Entwicklung bis in unsere Tage: Habermas spricht von Menschenwürde in unserem heutigen Verständnis als der „paradoxen Verallgemeinerung eines Begriffs, der ursprünglich nicht auf eine gleichmäßige Anerkennung der Würde eines jeden, sondern auf Statusdifferenzen zugeschnitten war“.[1] An dieser bis heute im Alltag sichtbaren Differenz der „Würde“ verschiedener Personen und Gruppen entlarvt sich von selbst das bis heute gültige Gemisch von evolutionär in Jahrmillionen ausgebildeter Sozialhierarchie und diesem Willen, die Einzigartigkeit und damit die Würde jedes einzelnen Menschen zu respektieren. Im europäischen Kulturkreis entstand das Verständnis von Menschenwürde vor allem aus der jüdisch-christlichen Überlieferung, in der „Jeder … als unvertretbare und unverwechselbare Person vor dem Jüngsten Gericht [erscheint]“.[2] Das Recht, das Menschenrecht auf diese gleiche Würde Aller, musste in Revolutionen erkämpft werden, um heute wenigstens theoretisch in demokratischen Rechtsstaaten beansprucht und eingefordert werden zu können. „Die Berufung auf Menschenrechte “, schreibt Habermas, „zehrt von der Empörung der Beleidigten über die Verletzung ihrer menschlichen Würde“.[3] Und weiter: „ … und zu Bewusstsein gebracht haben, was den Menschenrechten implizit von Anbeginn eingeschrieben war – nämlich jene normative Substanz der gleichen Menschenwürde eines jeden, welche die Menschenrechte gewissermaßen ausbuchstabieren“.[4] Und schließlich: „Die Gewährleistung dieser Menschenrechte erzeugt erst den Status von Bürgern, die als Subjekte gleicher Rechte einen Anspruch darauf haben, in ihrer menschlichen Würde respektiert zu werden“.[5]

Diese Aussagen verdeutlichen die Diskrepanz zwischen einer klaren philosophischen Darlegung des theoretischen Konzepts einer demokratischen Gesellschaft und der alltäglichen und grundsätzlichen politischen Wirklichkeit: Eine Verwechslung von biologischer Ungleichheit mit sozialer Gleichwertigkeit aus moralischen Gründen wurde politisch billigend in Kauf genommen, indem man zuerst von „Bürgerrechten“ im Staat sprach, ohne auf deren Ursprung hinzu-weisen, nämlich die Würde aller Einzelnen als einzigartigen Menschen, im Gegensatz zum herkömmlichen Konstrukt von „Würde“ als Ausdruck einer Machtposition in der Sozialhierarchie. Hinter dem politischen Slogan von „Gleichheit“ bleibt das Faktum unüberwindlicher „natürlicher“ Ungleichheiten verborgen [6] und gaukelt den Menschen vor, nunmehr automatisch gleich mächtig zu sein. Nicht „Gleichheit“ an sich, sondern „Gleichwertigkeit“ an Würde hatten die Menschen aber gefühlsmäßig im Sinn, als sie als Revolutionäre ihre Würdenträger stürzten.

Zu der Art und Weise, wie man zu einer „Statusordnung von Staatsbürgern“ in reziprokem Altruismus gelangen könnte, schreibt Habermas: „Der Übergang von der Vernunftmoral zum Vernunftrecht verlangt einen Wechsel von den symmetrisch verschränkten Perspektiven der Achtung und Wertschätzung der Autonomie des jeweils Anderen zu den Ansprüchen auf Anerkennung und Wertschätzung der jeweils eigenen Autonomie vonseiten des Anderen“.[7] Außerdem steht in der neuen, demokratischen Staatsordnung der Einzelne sogar mit einem Rechtsanspruch vor allen Anderen: „Der Begriff der Menschenwürde überträgt den Gehalt einer Moral der gleichen Achtung für jeden auf die Statusordnung von Staatsbürgern, die ihre Selbstachtung daraus schöpfen, dass sie von allen anderen Bürgern als Subjekte gleicher einklagbarer Rechte anerkannt werden“.[8] 

„Die Menschenrechte“, schreibt Habermas, „bilden insofern eine realistische Utopie, als sie nicht länger die sozialutopisch ausgemalten Bilder eines kollektiven Glücks vorgaukeln, sondern das ideale Ziel einer gerechten Gesellschaft in den Institutionen der Verfassungsstaaten selbst verankern“.[9]  

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Kommentar  E29 aus „Mensch und Demokratie. Streitschrift für eine globale Sozial-Ethik“, LIT-Verlag, im Druck 2020.

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Seitenangaben im Text beziehen sich auf Ref. [6].


[1]  J. Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, in: J. Habermas, Zur Verfassung Europas, Suhrkamp 2011, S. 24.

[2] ebd, S. 28.

[3] ebd, S. 16.

[4] ebd, S. 17.

[5] ebd, S. 21.

[6] L.M. Auer, Mensch und Demokratie. Streitschrift für eine globale Sozial-Ethik, LIT-Verlag, im Druck 2020.

[7] [7]  J. Habermas, Das Konzept der Menschenwürde und die realistische Utopie der Menschenrechte, in: J. Habermas, Zur Verfassung Europas, Suhrkamp 2011, S. 25.

[8] ebd, S. 26.

[9] ebd, S. 33.

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