Wahn erklärt Wirklichkeit den Krieg
Der Museumsdirektor hat schon gekündigt. Dem Enthüllungsjournalismus wurde der Grund nicht genau bekannt: ob er mit dem Mäzen in eine naturgeschichtlich-ideologische Auseinandersetzung geriet oder seiner Kündigung zuvorkommen wollte – als erfolgreicher Kletterer auf der Karriereleiter hoch vom Musemswärter hatte er wohl noch das Feingefühl für die Einschätzung des Publikums bewahrt.
Es ist eine seit 30 Jahren fällige Entscheidung der Europäer: die NATO hat seit dem Ende des Kalten Krieges und den freundschaftlichen Gesten der Russen ihren Sinn verloren.
Aber gleichzeitig ist die EU in einem Beziehungsdilemma von schizoidem Charakter, weil sich zwischen ihr und der NATO die politischen Interessen und Sinninhalte kreuzweise blockieren. Die Europäer sollten längst ihre NATO beendet haben, die EU kann aber nicht, weil die Ostblockländer dagegen stimmen:
Ostblockländer drohen seit der NATO-Osterweiterung locker mit ihrem EU-Austritt, weil sie wissen, dass die EU sie auch nach einem – exit via NATO schützen müsste. So bleiben sie in der EU, solange sie Geld dafür bekommen.
Die Türkei dient lediglich den USA als Raketenbasis gegen Russland (aber wozu, der Kalte Krieg ist doch zu Ende?!). Die Türken streiten mit der oder gegen die EU und kaufen ihre Waffen provokativ von den Russen – für einen Krieg gegen die Russen?
Die Norweger picken sich aus allen Optionen die Rosinen, unter dem Schutzschirm der NATO.
Global Britain sitzt den USA auf dem Schoß, mit dem Schießgewehr im Anschlag, ohne Wahl – und ohne NATO allein (Die USA führen für die Briten keinen Weltkrieg gegen China oder Russland).
Was heute geschieht, ist ein Äquivalent zum Verhalten der Siegermächte am Ende des Ersten Weltkrieges: Überwachung und Bewachung der Besiegten – damals besonders im Rheinland -, bis sich Widerstand in Deutschland gegen die Schmach zum Nationalsozialismus aufschaukelte. Jetzt sind die Russen in dieser Situation: mit schrägem Grinsen wird auf die Verlierer des Kalten Krieges herabgeschaut, bis sie in nationalistischem Hass losschlagen und sich freizukämpfen suchen, in Einem gleich auch gegen die eigenen Oligarchen, zuerst aber gegen die Abtrünnigen, die ihnen nicht gegen diese Republikaner mit ihrer Kommunismus-Paranoia geholfen haben, als sie am Boden lagen, darunter auch die Europäer – praktisch alle. Der Westen hat Russland zum „bösen Sohn der Zeit“ erzogen, der jetzt verbittert als Ausgeschlossener am Rand der Gesellschaft steht und von dort aus intervallweise randaliert.
Die NATO ist schon seit Jahrzehnten ein Museum, jetzt gehört sie endlich weg. Sie ist eine ständige Beleidigung und Bedrohung der Russen, und ein Verrat und Treuebruch des Westens. Statt NATO-Sitzungen mit Russland als Gast sollte Europa mit Russland um einen Bund verhandeln und gleichzeitig mit beiden Seiten, Russland und USA, für ein neues gemeinsames Bündnis werben – aber wie?
Europa bleibt jetzt nichts anderes übrig, als seinerseits diese hundert Jahre zurückzugehen in seiner Geschichte, dort den richtigen Frieden zu machen, wegen dessen Unterlassung der Zweite Weltkrieg ausbrach, und alle Gutwilligen aufsammeln zu einem Austritt aus der NATO. Das ist ihr Ende.
Die erste Wirkung vom Ende der NATO wäre, dass die Russen aufatmen könnten. Sie sähen sich nur noch Europa gegenüber, nicht mehr der Hegemonialmacht USA in Europa. Die USA brauchen Europa auch weiterhin, als Wirtschaftsraum, nicht nur als historische militärische Pufferzone.
Dann kann diese Gruppe der gutwilligen Europäer ein Friedens-Schengen-Abkommen mit Russland außerhalb der EU in Angriff nehmen – und die USA dazu miteinladen. Die Verweigerer in der EU können das auch als „Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ einordnen und jederzeit beitreten, bis die EU wieder komplett ist – hoffentlich bereichert um ein Partnerland: Russland. Die USA könnten sich – und Europa – im Vorfeld, im Verhandlungsstadium, beruhigen mit einer Schenkung: Waffenlieferung nach Europa, die es den Russen an Militärmacht gleichstellt. Dieser neuen Supermacht EU könnten sie gleichzeitig selbst beitreten und hätten damit in Einem den Russen, Europa und sich selbst zu einer sicheren russischen Südflanke verholfen.
Sandkastenspiele, ja. Aber verdammt gute, erwachsene, auf dem Weg zum Weltfrieden. Denn auch die Chinesen sind nichts als Nachbarn, traditionell sogar sehr friedliche Nachbarn seit vielen tausenden von Jahren. [1] [2]
[1] L.M. Auer, Europa, Wunsch, Wahn und Wirklichkeit. Eine Trilogie, LIT-Verlag 2020-22.
[2] L.M. Auer, Mensch und Demokratie, LIT-Verlag 2021.